16.12.11 18:15 Uhr Vereinsheim München
Deutschland und seine Kinder pflegen ein schwieriges Familienverhältnis: Erst will die komplette 68er-Generation so gar nichts vom Vaterland wissen, aber dann stimmen die Kindeskinder des Wirtschaftswunders anlässlich internationaler Ballspiele ein solches vaterländisches Gegröle an, dass es selbst den wertkonservativen Eltern doch irgendwie peinlich ist. Wer kann es dem Deutschen da also verdenken, dass er anstelle der undankbaren eigenen Brut lieber einen zuverlässigeren Begleiter als liebstes Kind ins Herz schließt: Sein Automobil. Ganz konsequent hat der liebende Deutsche dann auch die Gestaltung seines Landes zum Kinderparadies betrieben: Während die bockige Sorte Nachwuchs ihre Zeit in engen Hinterhöfen mit »Ballspielen verboten!« verbringen durfte, bekamen die brav brummenden Blechlieblinge vielspurige Spielplätze samt Schleifen, Brücken und Tunneln für den artgerechten Auslauf. Und sollte es doch einmal Begegnungen zwischen bockigem Balg und lackiertem Liebling in freier Wildbahn geben war stets klar, wem der Platz am Ende der Nahrungskette zustand.
Nun aber gärt Unruhe in der deutschen Musterfamilie aus Mammi, Yuppi und Doppelgarage. Während die kollektive Verfettung des fleischlichen Nachwuchses bereits seit längerem mit hysterischen Fitness-Appellen und Fastfood-Verwünschungen bekämpft wird, wurden die ebenfalls immer dicker daherkommenden Blechgefährten bis zuletzt wohlmeinend als Zeichen steigenden Wohlstands verhätschelt. Nach und nach aber wird schmerzhaft spürbar, wozu übersteigerte Blechtonnage und emotionale Vernachlässigung bei beiderlei Kinderlein geführt haben: Zu maßlosem Saufen. Was dann wiederum in beiden Fällen dicke Luft zur Folge hat. Mit der Steuerschraube hat sich der unmäßige Durst offenbar nicht steuern lassen. Was womöglich daran liegt, dass viele der Radpanzer auf Deutschlands Straßen mittels Spesen-Kreditkarte ein ununterbrochenes Flatrate-Saufen betreiben, dem sich die anderen Kinder dann am Wochenende dankbar anschließen.
Während nun das Problem des Saufens als letzter gemeinsamer Kulturidentität bei den leiblichen Kindern mittels einfacher Verbote gelöst werden soll, ist die Situation bei den Lieblingskindern natürlich komplexer: Ab dem 1. Dezember sollen gemäß der Pkw-Energieverbrauchskennzeichnungsverordnung (Pkw-EnVKV) alle Neuwagen zu einer Art Sportabzeichen antreten und ihrer Durstigkeit nach in Kategorien von »A«(strein) bis »G«(rottig) sortiert werden. Aber der Herr Wirtschaftsminster Dr. Rösler wäre kein liebender Deutscher, wenn es nicht doch noch einen kleinen Trost für die geliebten Dickerchen mit den Breitreifen gäbe: Er hat ganz kuschelpädagogisch entschieden, dass es keine festgelegte Messlatte des gerechtfertigten Durstes geben darf, sondern jedes Automobil selbst seinen Grenzwert ermittelt, indem es sein Leergewicht mit der Zahl 0,08987 multipliziert und das Ergebnis dann mit seinem tatsächlichen CO2-Ausstoß vergleicht. Drüber: pfui! – Drunter: hui! – lautet dann die Wertung. Was in der Praxis bedeutet, dass große Tiere in schweren Autos eben auch größer Furzen dürfen. Oder andersherum: Es gibt keine zu schmutzigen, sondern nur zu leichte Fahrzeuge. Ein Manko, dem die deutsche Autoindustrie aber inzwischen Gewichtiges entgegensetzt, z.B. den VW Phaeton, BMW X5 oder Audi Q7 mit jeweils deutlich mehr als zwei Tonnen Leergewicht.
So viele Fragen also, an denen der wissenschaftliche Verstand verzweifelt. Wie gut also, dass Die Physik des Scheiterns auf erfahrene Gelehrte abwegiger Disziplinen als Gastredner zurückgreifen kann. Christian Moser nämlich kann eine grade in Sachen Straßenverkehr epochale Entdeckung vorweisen: Die menschlichen Wahnsinnstaten sind gar nicht des Menschen eigene Schuld. Weil der nämlich, von den Monstern des Alltags befallen und beherrscht, seines eigenen freien Willens beraubt ist. Moser hat in jahrelanger Arbeit dutzende dieser Monster identifizieren und skizzieren können und seine Ergebnisse bereits in einer Vielzahl monsterologischer Bildbände veröffentlicht. Für die Physik des Scheiterns präsentierte er in Wort und farbigem Bild die Monster des Auto-Alltags – eine Auswahl besonders bleifüßiger und rechthaberischer Kreaturen.